Mit dieser Seite eröffnen sich vielfältige Aktivitäten im Netz wie ausserhalb. Wissenschaftliche Semiotik wird betrieben in der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, deren Organ die ZEITSCHRIFT FÜR SEMIOTIK ist (Heft 1/1979 zu den semiotischen Klassikern des 20. Jahrhunderts), Tagungen veranstaltet und verschiedene fachspezische Sektionen eingerichtet hat. Die Aktivitäten werden von einer Arbeitsstelle für Semiotik an der Technischen Universtität Berlin betreut. Das Thema “Recht und Sprache”, das im Zentrum dieser Seite und der daran anschließenden www.rechtssemiotik.de steht, eröffnet grössere Zusammenhänge. Michael Sokolowski wird sie in einem vernetzten Virtuellen Institut für Recht und Sprache (VIRUS) entwickeln. Diese Seite nimmt Bezug auf das von Roland Posner herausgegebene Handbuch für Semiotik beim Verlag de Gruyter (Berlin u.a.) mit den zentralen Stichworten “Syntactics” (Art. 1) und “Pragmatics” (Art. 4).
“The doctrine of signs” nannte John Locke (1690, ch.XXI) den dritten Zweig der Wissenschaften neben Philosophie und Ethik. Die Semiotik lehrt, was Zeichen sind und warum alles, was wir verstehen, zum Zeichen wird. Das ist im 19. Jahrhundert von Charles Sanders Peirce (1839-1914) und im 20. Jahrhundert von Ferdinand de Saussure (1857-1913) und Charles W. Morris (vgl. dazu Art. 113 in Posner 1998) ausgearbeitet worden. Eine gute und kurze klassische Einführung gibt noch heute der Artikel von Morris (1938) im Verlag der Enzyklopädie. Die Semiotik ist aktuell von Umberto Eco populär gemacht worden. Das ist vor allem über seinen Detektivroman “Der Name der Rose” (1980) geschehen, eine spannende Geschichte über das metaphorische und physische Verschwinden von Zeichen (und Menschen). Eco theoretisch kann in “Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen” studiert werden. Hier wird für zeitgenössische Leser entfaltet, was der Detektiv für ermordete Mönche in einem Kloster des 13. Jahrhunderts im Sinn hat.
Zeichen markieren etwas und machen das Markierte bedeutsam, weil es von anderem, das nicht bezeichnet ist, unterschieden wird. Das kann nur in Kommunikationen zwischen Sendern und Empfängern geschehen. Das Fundament jeder Einzelwissenschaft ist damit die Pragmatik als Beziehung zwischen Sendern und Empfängern, die jeweils Markierungen schaffen und verwenden. Insofern bietet die Semiotik die Grundlage für eine umfassende Theorie der Kommunikation. Jemand markiert etwas als Recht, unterscheidet es damit vom nichtmarkierten Rest, und jemand anderes versteht die so markierte Bedeutung als Mitteilung über die Welt. Zwischen Sender und Empfänger konstituiert sich eine Welt des Gemeinten und der Meinungen.
Der Zeichencharakter des Rechts tritt erst hervor, wenn ich seine Bedeutung nicht verstehe und darüber streite. Im Streit wird die Bedeutung des Zeichens durch eine dem “Wirklichen” nähere mögliche Fallgeschichte wiedergegeben, die selbst aus Zeichen besteht. Die Semantik bezieht etwas Markiertes auf seine Bedeutung. Sie verweist auf etwas und verlangt damit eine interpretierende Bewegung: Das nicht verstandene Zeichen muß auf ein anderes besser verständliches, scheinbar nicht mehr interpreta-tionsbedürftiges Zeichen zu bezogen werden. Dieses andere Zeichen nimmt wechselnde Formen an. Die Syntaktik als Verknüpfungslehre zwischen den einzelnen markierten Zeichen umfaßt die Formen des möglichen Verweises und der internen Verkettung. Wenn man nach der Bedeutung eines Worts wie “Handlungsfreiheit” fragt, erhält man Zeichen zur Antwort, die den Zusam-menhang einer Geschichte annehmen können. Die Bedeutung ist damit nicht eigentlich geklärt, auch wenn die Verbindung zweier Zeichen zu einer be-stimmten Ordnung führt und den Eindruck erweckt, etwas Offenes sei geschlossen, etwas zuvor Fragliches nun mit einem klärenden Zusatz versehen. Die jeweils neuen Zeichen ordnen dem Ausdruck, nach dessen Bedeutung ge-fragt ist, einen besonderen Inhalt zu. Wenn Syntaktik und Semantik eines Ausdrucks geschlossen sind, dann ist eine Pragmatik überflüssig, weil sie ebenfalls abgeschlossen erscheint. Das ist jedoch ein Grenzfall, der nur durch logische Operationen eintritt. In der Wirklichkeit sind die Verweise von Zeichen auf Zeichen nicht vollständig festgelegt und ausdefiniert.
Das Zeichen erhält auf diese Weise variable Seiten. Verwendet und zur Verständigung eingesetzt wird nur eine als fest erscheinende Seite, die bezeichnende nämlich, die in der Semiotik nach der Terminologie von Saussure “der Signifikant” heißt. Erkennbar ist am Signifikanten jeweils nur der konkrete Zeichenträger, das Exemplar des Zeichens, seine Typografik oder seine Phonetik. Die andere Seite, die Funktion der Bezugnahme und damit die Qualität, die einen Gegenstand von einem Zeichen unterscheidet – sie bleiben unsichtbar und ungreifbar. Unsichtbar bleibt vor allem die mögliche Wahrheit der Bedeutung. Ist etwas so, wie es gemeint scheint? wenn nicht, braucht es möglicherweise mehr Interpretationen, als wenn es scheint, wie es gemeint ist. Das Unwahrscheinliche kann die wahre Bedeutung in sich tragen, aber diese Bedeutung braucht wesentlich mehr Interpretationen.
Die Welt besteht normalerweise aus vielen Markierungen und entsprechend vielen davon bezeichneten Handlungen und Zuständen. Zeichen treten insofern immer im Plural auf. Es ist ein Kunstgriff, ein Zeichen zu isolieren und diesem Zeichen eine isolierte Bedeutung zuzuschreiben. Dementsprechend führt es in die Rechtssemiotik zu behaupten, das Recht sei Zeichen; es gebe ein Rechtszeichen. Damit wird eine Markierung unterstellt, von der auszugehen ist. Das transzendentale Rechtszeichen (Simon 1989, 293f) verweist auf eine gerechte Verfassung der Welt. Auf solche Verweise sind Menschen angewiesen. Alle Erzählungen und Fälle in der Literatur verweisen auf die Welt, berichten etwas darüber und enthalten eine normative Botschaft. Diese Botschaft versichert dem Erzähler und den Adressaten, daß die Welt – trotz allem – eine Verfassung und einen Sinn hat. Das Recht ist ein Zeichen, und es besteht aus Zeichen.
Das zentrale Gegenargument gegen jede tatsächliche Behauptung, gegen jeden juristischen Tatsachenvortrag, lautet: Dies oder jenes sei nicht wahr, entspreche nicht den Tatsachen, sei in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Hinter den Objekten der Erzählung und Feststellung verweist man mit dieser Abwehr auf einen Bereich metaobjektiver und metaphysischer Erkenntnis. Es geht im Recht immer um beides: um einfache, praktische, physische Eingriffe, um Zwang und um Hilfe, um komplizierte metaphysische Überhöhungen und um Verzögerungen, Schleifen oder Schwierigkeiten. Mit diesem Gegeneinander kann zunächst einmal der Selbstlauf einer Begründung unterbrochen werden. An der Wirklichkeit soll eine Begründung scheitern können. Hinter Ausdrucksweisen, mit denen man Recht bezeichnet, und vor Eindrücke, die es bezeichnen soll, schiebt sich die “Wirklichkeit” als eine dritte, nicht ganz greifbare, aber immer mitgemeinte und leicht unwirkliche Kategorie. Recht ist nicht nur, was man sich darunter vorstellt, weil die Vorstellung sich auf etwas beziehen und das Gute, das rechtlich Gesollte, meinen muß. Ein Rechtsverfahren, dem sich mit wirklichen Aussagen und realen Beobachtungen keine andere Richtung und kein anderes Ergebnis mehr abgewinnen läßt, das also nicht auch scheitern kann, würde nur noch auf ein feststehendes Ergebnis zusteuern. Solche Prozesse gibt es, aber sie sind totalitärer Art. Zum Verfahren gehört die Gefährlichkeit des Vielleicht. Vielleicht ist es falsch, was ich behaupte (auch wenn ich das im Moment der Behauptung nicht gleichzeitig hervorheben und sagen kann). Ein Gegenbeweis, ein Gegenteil des Werts: Sie sind immer möglich.
THOMAS-MICHAEL SEIBERT
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Erwähnte Literatur: Locke, John (1690), An Essay Concerning Human Understanding; Eco, Umberto (1980), Der Name der Rose, (dt.) München: Hanser 1983; Eco, Umberto (1991), Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. Deutsch v. G. Memmert, 2. Aufl. München: Fink; Morris, Charles William (1938), Grundlagen der Zeichentheorie (dt.:) München: Hanser 1972; Posner, Roland (1996, ed.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 1. Teilband. Berlin: de Gruyter; ders. (1998, ed.). 2. Teilband; Simon, Josef (1989), Philosophie des Zeichens. Berlin und New York: de Gruyter.